Jeremy Farrar: Europas Bevölkerung ist aufgrund einiger Faktoren besonders gefährdet: das hohe Alter, Vorerkrankungen wie Übergewicht und Diabetes, eine hohe Bevölkerungsdichte, Mehrgenerationenfamilien und die Nähe von Menschen, die in Gemeinden in kleinen Wohnungen oder Häusern dicht beieinander leben. Hinzu kommt: Dieses Virus ist zwar in jedem Klima hochansteckend, aber es hat wie die meisten Atemwegserkrankungen eine saisonale Komponente. Das hat in Europa ganz klar eine Rolle gespielt. Wir haben sehr deutlich gesehen, dass das Virus im Sommer zurückgegangen und im Winter wiedergekommen ist.
ZEIT ONLINE: Aber auch die Antwort der Länder auf die Pandemie hat eine Rolle gespielt.
Farrar: Natürlich. In ganz Europa ist in den vergangenen zehn Jahren und auch schon davor nicht genug Geld ins öffentliche Gesundheitswesen investiert worden. Das hat den Umgang mit der Krise erschwert. Ich glaube, einer der Gründe, warum Deutschland mit der ersten Welle besser klargekommen ist als beispielsweise Großbritannien oder Belgien und vermutlich auch jetzt besser klarkommt, ist, dass es etwa in Krankenhäusern zusätzliche Kapazitäten gab.
Dazu kommt, dass die meisten Länder in Europa den Juni, Juli und August nicht ausreichend genutzt haben, um sich auf den Wiederanstieg der Fallzahlen im Winter vorzubereiten. Sie haben wieder, wie schon im Januar und Februar, zu spät reagiert. Im Grunde ist der Verlauf dieser Pandemie seit Mitte oder Ende Januar recht vorhersehbar gewesen. Trotzdem gab es eine Kombination aus Optimismus und einer verzweifelten Hoffnung darauf, dass die Geschichte sich nicht wiederholen würde. Und so sind wir ein zweites Mal überrollt worden.
ZEIT ONLINE: In den Ländern, die zu zögerlich reagiert haben, gibt es
tausende Todesfälle, die man hätte verhindern können. Sie sind selbst im wissenschaftlichen Beratungsgremium der britischen Regierung und hatten dafür plädiert, den zweiten Lockdown dort viel früher zu beginnen. Tragen Regierungen wie die britische oder belgische die Verantwortung für diese Tragödie, weil sie zunächst nicht auf die Wissenschaft gehört haben?
Farrar: Der Rat von Wissenschaftlern und Gesundheitsexperten muss in einen breiteren Kontext gestellt werden. Es ist der Job von Politikern abzuwägen: öffentliche Gesundheit gegen Wirtschaft, Bildung, Beschäftigung, die psychische Gesundheit der Bevölkerung und viele andere Aspekte.
Ich persönlich glaube aber nicht, dass es einen Widerspruch gibt zwischen dem, was für die Wirtschaft, und dem, was für die Gesundheit der Menschen gut ist. Im Gegenteil: Länder wie Korea, Singapur,
Neuseeland, Australien und China, die es geschafft haben, die Verbreitung des Virus zu stoppen und Leben zu retten, haben sich auch wirtschaftlich schneller erholt als andere Länder.
Die Lehre ist: Man muss die Neuinfektionen wirklich herunterdrücken, bevor man die Maßnahmen lockert. Und wenn man die Maßnahmen lockert, muss man das sehr vorsichtig tun. Sonst gerät man in einen Stop-and-go-Modus, der unglaublich belastend ist. (min uth.)
In Asien scheint das Virus besiegt, in der EU sieht es düster aus. Wie konnte das passieren? Der Infektiologe Jeremy Farrar über falsche Strategien und Wege aus der Krise
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